Rückwärts
Es soll Menschen geben, denen das Rückwärtsfahren Unbehagen bereitet. Für Christian ist das nur schwer nachvollziehbar. Er selbst empfindet es jedes Mal aufs Neue ein bisschen aufregend. Das war schon immer so. Solange er zurückdenken kann. Auf dem Weg zur Schule, am Nachmittag mit Freunden oder mit seiner Mutter auf dem Weg zum Arzt. Kaum, dass die Straßenbahn angehalten hatte, war er losgestürmt, um sich einen Rückwärtsplatz zu sichern. Seine Mutter hatte sich stets auf den Platz gegenüber gesetzt. Niemals neben ihn, es sei denn, sonst war nichts frei. Bis heute hat Christian sich diesen Hauch von Abenteuer bewahren können. Dieses vage Gefühl von Rummelplatz. Wie beim Anblick eines Karussells mit seinen umeinanderkreisenden Schwenkarmen, nur eben schwächer. Ein bisschen ist es auch jetzt so, als die Bahn, in der er stadteinwärts fährt, unvermittelt nach links abbiegt. Aus Christians Perspektive sieht es so aus, als würde der hintere Wagenteil, also das, was nach dem Drehgelenk kommt, nach rechts verschwinden, um dann nach wenigen Sekunden wieder zurückzuschleudern. Rückwärtsfahren hat so etwas … Passives. Ja, etwas geschieht mit einem. Etwas Unerwartetes. Nicht, dass er ein passiver Mensch wäre, denkt Christian. Ganz im Gegenteil.
Die Bahn nähert sich seiner Haltestelle. Christian steht auf und schiebt sich an den anderen Fahrgästen vorbei zum Ausstieg. Vor ihm steht ein junges Mädchen und wartet, dass sich die Türen öffnen. Musikfetzen quellen aus ihren Ohrhörern hervor. Er kann das Stück nicht erkennen. Was vermutlich daran liegt, dass fast zwei Generationen zwischen seiner Musik und ihrer liegen. Mal ehrlich, er hat es damals auch nicht anders gemacht. Kopfhörer auf, Lautstärke hochdrehen und Umwelt ausblenden. Mit dem Unterschied, dass sein sperriger Walkman genau eine Kassette im Angebot hatte, nur mit Mühe in die Gesäßtasche seiner Jeans passte und nach neunzig Minuten Schluss gewesen war. Oder eben nochmal von vorn. Mit den elektronischen Geräten von heute ist das nicht ansatzweise vergleichbar. Aber trotzdem. Es hatte sich auch damals gut angefühlt.
Er steigt aus und geht nach rechts, ebenso wie die junge Frau vor ihm. Hinter dem letzten Straßenbahnwagen betritt sie unvermittelt die Gleise, offensichtlich in der Absicht, sie zu überqueren. Christian spürt ein kurzes aber heftiges Krampfen in der Magengrube. Himmel nochmal! Sieht sie denn nicht die Bahn, die gerade auf dem Nachbargleis einfährt? Er macht zwei schnelle Schritte in ihre Richtung, bereit sie zurück zu reißen und vor dem Zusammenprall mit dem stählernen Koloss zu bewahren. Doch seine Aufregung ist unbegründet. Die junge Frau hält an, wartet, bis die einfahrende Bahn zum Stillstand kommt, und geht unversehrt weiter. Hätte eine Schlagzeile werden können: ›Passant rettet junge Frau unter Einsatz seines Lebens‹. Schmunzelnd setzt er seinen Weg fort.
Vom Schlosspark her kommen ihm Familien entgegen. Strahlende Kinder, die Händchen voller Pommes, Eis oder Ballons. Ein Junge weint. Sein kleines Gesicht ist nass von Tränen und verzieht sich in verzweifelter Trauer. Die Mutter versucht ihn fortzuzerren, doch er stemmt sich wie ein Widerhaken mit seinen Füßchen in das Pflaster des Gehwegs.
»… beim nächsten Mal besser festhalten!«, hört er die Mutter des Jungen schimpfen, wobei ihm nicht klar ist, ob sie ihre Schimpftirade in die Kante ihres Smartphones spricht oder an ihren weinenden Sohn richtet. Christians Augen folgen dem Blick des Jungen. Ein gasgefüllter Ballon in Form eines leuchtendroten Marienkäfers zappelt etwa zwei Meter hoch über den Köpfen der Passanten herum. Die Schnur hat sich an der Außenwerbung eines Drogeriemarktes verfangen. Zu nah um ihn aufzugeben, zu fern um ihn zu erreichen. Christian ist beeindruckt von der Kraft, die der Junge der mütterlichen Autorität entgegensetzt und dabei unerschütterlich an die Umkehrbarkeit des Geschehens glaubt. Wie stehen die Chancen, ihm diesen Traum zu erfüllen? Kann er das mit seinen fast fünfzig Jahren wagen? Seine Fitness ist altersgerecht, wie sein Arzt es ausdrückt. Trotzdem! Einen Versuch ist es wert. Er steigt auf den kniehohen Sims des Schaufensters. An einem Regenablaufrohr hält er sich fest und hofft, dass es nicht nachgeben wird. Dann zieht er das linke Bein hoch, um auf den Kaugummiautomaten zu gelangen. Er stellt sich dabei zwei Fragen. Erstens: wie hatten es diese antiquierten Dinger bis in die heutige Zeit geschafft? Und zweitens: Sind die Befestigungen so ausgelegt, dass sie sein Gewicht tragen können? Einige Passanten schielen bereits argwöhnisch in Christians Richtung. Der Junge hat inzwischen begriffen, was er vorhat. Sein Weinen geht in ungläubiges Staunen über. Jetzt noch der Klimmzug rauf auf den Zigarettenautomaten. Geschafft! Er streckt seine Einmeterachtzig auf bestimmt Zweimetervierzig und … Ja! Er hat die Schnur erwischt und hält seine hart erkämpfte Trophäe fest in der Hand. Jetzt würde es cool rübergekommen, wenn er in einem Satz vom Zigarettenautomaten auf den Gehweg springen könnte. Doch mit Rücksicht auf seine Kniegelenke steigt er zurück auf das altertümliche Kaugummigerät und springt von dort.
Der Junge hat sich von seiner Mutter losgerissen und kommt herübergelaufen. Christian knotet eine Schlaufe in die Schnur und schiebt sie über das zarte Kinderhändchen. Der Junge strahlt. Die Mutter scheint peinlich berührt aber Christian erfreut sich an dem bezaubernden Kinderlächeln. Er zwinkert dem Jungen verschwörerisch zu und geht weiter. Als er sich noch einmal umdreht, winkt der Junge ihm nach. Christian winkt zurück, mit heiterem Schwung ein paar Schritte rückwärts laufend. Da trifft ihn aus heiterem Himmel eine stählerne Keule an Steiß und Hinterkopf. Er taumelt und sinkt an Ort und Stelle benommen zu Boden. Erschreckt trippelt der Junge auf flinken Beinchen zu ihm herüber. Christan rappelt sich hoch in die Hocke, mit einer Schulter an den Laternenmast gelehnt, der ihm den Schlag verpasst hat. Er lächelt und gibt sich unversehrt, obwohl das Pulsieren an seinem Hinterkopf eine gewaltige Beule und Kopfschmerzen ankündigt. Das Gesicht des Jungen entspannt sich.
»Machst du das öfter?«, fragt er schelmisch grinsend.
»Was denn?«, fragt Christian zurück.
»Na, Rückwärtslaufen.«
»Ja, manchmal«, gibt er augenzwinkernd zu. »Und du?«
»Ich auch«, flüstert der Junge ihm ins Ohr. »Aber du musst besser aufpassen, sonst passieren dir so komische Sachen.«
Stimmt, denkt Christian. Aber das ist es tausendmal wert.